Gedanken zur Sommerausstellung der Stiftung Christliche Kunst Wittenberg
Von Christhard-Georg Neubert
Arbeiten auf Papier locken Besucherinnen und Besucher in ein stilles Stelldichein in die intimen Räume der Stiftung Christliche Kunst. Aus der Fülle der stiftungseigenen Sammlung präsentiert eine thematische Ausstellung das breite Spektrum menschlicher Suche nach Glück und Unversehrtheit im Spiegel der Kunst.
Faszinierend zu spüren, mit welchem Ernst, mit welcher Emphase und künstlerischer Formgebung die hier zu sehenden Bildwerke um Auge und Geist der Betrachter werben. Es ist, als wäre auf je unterschiedliche Weise allen Bildwerken dieselbe Frage eingeschrieben: „Was ist der Mensch“?
Vor den archaischen Holzschnitten etwa eines Schmidt-Rottluff oder vor Emil Noldes „Prophet“ hört man förmlich das Holz splittern unter dem Einsatz des Messers. Hell-Dunkel-Kontraste beherrschen durchgehend die Szene. Sie befördern die Konzentration des Auges auf das Wesentliche. Manchmal faszinieren in zarten Halbtönen gearbeitete Blätter, wie etwa das der „Heimsuchung“ von Käthe Kollwitz; da wird das bergende Dunkel gleichsam zur „Würdeformel“ (B.-W. Lindemann). Sobald wir uns einlassen auf die starken Bildzeichen dieser Ausstellung merken wir, in welchem Ernst für das bedrohte Individuum künstlerisch eingestanden wird. Wir werden Zeugen jener Parteinahme, die sich nicht abfindet, mit dem, was ist.
Kein Sich-Abfinden spricht aus den Blättern! Stattdessen Parteinahme für die unveräußerlichen und doch permanent in Frage gestellten, bestrittenen, nicht selten schutzlos dem Hohn und Spott ausgesetzten Rechte des Menschen auf Würde, auf Unversehrtheit und Freiheit von Gewalt.
Alle Künstlerinnen und Künstler, die sich in dieser Ausstellung zu Wort melden, verzichten auf Bildstrategien, die im heutigen Kunstbetrieb vielfältig anzutreffen sind: wie etwa Ironie oder hintersinnigen Humor. Diese Strategien haben die Sehgewohnheiten wohl der meisten Menschen weitgehend geprägt. Der Verzicht auf sie mag irritieren; mag dazu beitragen, dass uns manche der hier gezeigten Arbeiten fremd erscheinen. Kein Wunder: ausnahmslos allen Bildwerken sind die Schrecken und das Leid der Weltkriege, die Abwesenheit von Frieden, der Schmerz über die Folgen von Kummer und Leid zutiefst eingeschrieben. Angesichts des kriegerischen Überfalls auf die Ukraine und des Leids der Geflüchteten spüren wir fast bedrängend die bleibende Aktualität dieser Kunstwerke.
Vor diesem Hintergrund ist es lohnend zu verstehen und nachzuvollziehen, dass und wie biblische Bilder, Gleichnisse, Szenen den Stoff hergeben, um existentielle Grundfragen menschlichen Lebens zu thematisieren. Bei näherem Hinschauen wird erkennbar, dass und wie selbst die jüngste Kunst durch die abendländische-christliche Tradition geprägt wird. Davon gewinnt einen Eindruck, wer den jüngsten Arbeiten hier versammelter Künstler begegnet, wie etwa Katherina Belkina. Ihre Arbeit ‚The Sinner‘ (s. Abb.) könnte vielleicht als ein früher Beitrag zur MeToo-Debatte gelesen werden. Aber wie alt das Thema ist, verdeutlicht der biblische Bezug ihres Bildes. ‚Lucifer‘ und ‚Erzengel Michael‘ des Leipziger Malers Michael Triegel stehen wie zwei Antipoden nebeneinander. Aus christlicher Sicht ist ja der Kampf zwischen den Kräften der Finsternis und den Kräften des Lichtes entschieden. Vielleicht aber auch nicht. Wieviel von dieser Gegensätzlichkeit tragen Menschen in sich und wie begegnen sie diesem Phänomen? Die neue Ausstellung zieht die Besucherinnen und Besucher hinein in das stets unabgeschlossene Geflecht von Fragen, deren Antworten nur eine begrenzte Halbwertzeit haben.